Nachlässe

11
Sep
2006

9/11

falling-man

Seltsam.

Seltsam, mit welcher grausamen Anmut dieses Bild um die Welt ging – ein Foto eines Mannes, scheinbar in der Luft verharrend oder doch abtauchend, an einem unsichtbaren Seil hinunter gleitend durch die Mitte eines streifgemusterten Etwas, in der Haltung eines Kopf stehenden Stepdancers…

Wäre da nicht diese Erinnerung, die sich eingefressen hat in die Hirne der Welt.
Die Erinnerung daran, dass hier keine fotokünstlerische Ästhetik zu bewundern ist, sondern letzte Momente eines Lebens eingefangen wurden, das aus tiefster Verzweifelung heraus zwischen zwei teuflischen Alternativen die wählte, die Luft zum Atmen zum Preis des schnelleren Todes gewährte.

Fünf Jahre ist das Foto nun alt.

Fünf Jahre, und die Bilder und Nachrichten über den Exitus der Zwillingstürme sind so präsent wie eh und je.

Mir gehen diese Menschen nicht aus dem Sinn, die, eingeschlossen in den Türmen, verzweifelt in den Fensternischen um Hilfe schrieen, sich an die Fassade klammerten, in der Hoffnung, dem tödlichen Rauch und dem Zittern der Türme entgehen zu können.

Mir gehen diese Menschen nicht aus dem Sinn, die dann, getrieben von einer irrwitzigen Entscheidungsnot, allein, zu zweit, Hand in Hand, sprangen. Mehrere hundert Meter tief, mehrere Sekunden, den Tod sicher vor Augen.

Mir geht der Filmausschnitt nicht aus dem Sinn, mit dem ein Kameramann die entsetzten Gesichter der Feuerwehrleute festhielt, während sein Mikrofon unbarmherzig die Aufschläge der zerplatzenden Körper aufzeichnete. Ein dumpfes Knallen, immer und immer wieder. Mehr als 200 Menschen. Gesprungen. Gefallen. Zerborsten. Verschollen.

Mir geht es nicht aus dem Sinn, wie Kardinal Lehmann in einem Fernsehinterview , sichtbar gezeichnet von dem entsetzlichen Ereignis, den Mut hatte, für die Kirche eine Stellungnahme abzugeben und zu den ihm präsentierten Bildern sagte: "Sie können nicht tiefer fallen als in Gottes Hände."

Mir geht er nicht aus dem Sinn, der 11. September 2001.

- A. H. -
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15
Aug
2006

Das reziproke Themenschaf

Auf grünen Wiesen grasen Schafe
Der Hirte wacht in stiller Ruh
Er kämpft zeitweilig mit dem Schlafe
Und Müller`s Esel macht nicht „Muh“.

Ganz munter hüpft auf Nachbar`s Weide
Das Themenschaf und blökt herum.
Dem Grashalm tut es nichts zu Leide.
Es macht es einfach andersrum.

Nein, nein, es sucht hier keinen Zwist.
Das wäre völlig falsch gedacht.
Es macht ganz einfach ständig Mist.
Jedoch gekonnt – wär`doch gelacht!

Und die Moral von der Geschicht`:
Den Seinen gibt`s der Herr im Schlaf.
Die Sonne lacht – nur einem nicht.
Dem reziproken Themenschaf.

- A. H. -
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1
Jan
1996

Sandkörner

Die zierliche Frau mit den nachtdunklen Haaren schien zielstrebig zu sein. Mit festem Tritt in die Pedale bewegte sie sich auf dem mittig wie ein Rückgrat über die Insel verlaufenden Weg Richtung Osten, die geschlossene Bebauung des Inselstädtchens bald hinter sich lassend.

Das junge Mädchen auf dem Rad an ihrer Seite hielt Schritt. Gelegentliches Lachen der beiden verwehte im dünigen Strandgras der Strecke. Sie verstanden sich und waren einander lange vertraut – das war zu sehen. Heiter, wie eben nur Mutter und Tochter sein können. Und heiterer als das Wetter. Große Wolken wie in den Himmel geworfene Oberbetten schoben sich immer wieder vor die Sonne und malten marmorierte Schatten in die stille Landschaft. So, als wollten sie das Grün und helle Ocker ringsherum mit leichtem Grau betupfen.

Eine kleine Rundfahrt war geplant. Altbekanntes neu erkunden. Wie eine Reise durch ein Museum der Vergangenheit. Die Jugendherberge Dünensender. Der Golfplatz nahe der Landseite der Insel. Der kleine Flugplatz, nicht weit davon entfernt. Der markante Leuchtturm. Landmarken der Erinnerungen, zusammengestellt in unzähligen Urlauben aus den vergangenen Jahren. Kindheitserinnerungen, Jugendträume, Sehnsüchte, eingegraben, verankert im Inselsand, Fixpunkte am Lebenswegesrand, zeitlos, scheinbar nicht alternd.

Hin und wieder hielten sie an, und die ausgestreckten Zeigefinger ließen erahnen, dass alte Bilder neu zusammengepuzzelt wurden.
Nach den drei nahe beieinander liegenden Campingplätzen bogen sie nach links ab Richtung Seeseite, dorthin, wo das Meer gefräßiger und unbändiger an der Insel nagte.

Der Weg wurde nun beschwerlich, sandig. Reiter kamen entgegen, die Räder konnten nur noch geschoben werden bis zur Nahtstelle zwischen Dünenlandschaft und breitem Sandstrand, der sich hier teilweise wie mit großer Hand in die Insel gekratzt fingerförmige Buchten in die Insel gefressen hatte.

Sie schoben die Räder in eine dieser Taschen der Muße, eine aus Sand und Strandhafer geformte kleine Sackgasse, in der es still und hell war wie in einer Kapelle.

Die zierliche Frau rollte ihre Windjacke zu einer Wulst zusammen, streckte sich lang im Sand aus und drapierte diese wie ein Kopfkissen unter ihr schwarzes Haar. Das junge Mädchen setzte sich dicht neben sie und malte neben ihren Beinen schweigend kleine Symbole in den festen Sand.

Die Wolken hatten die Sonne nun einen Moment gnädig freigegeben und ließen sie mit ihrer Wärme Entspannung in die Gesichter der beiden zaubern.

Ein Seufzen entfuhr der zierlichen Frau.

Komm“, sagte sie zu ihrer jungen Begleiterin. „Es ist ja nicht mehr weit.“

Sie ließen die Fahrräder liegen und liefen auf den offenen Strand zu, der nun breit und flach, von den Gezeiten zerfurcht, vor ihnen lag.

Die zierliche Frau griff nach der Hand des Mädchens. Ihre Schritte verlangsamten sich.

Nahe der Brandungslinie setzten sie sich erneut in den etwas feuchten Sand, das Meer nun fast vor den Füßen bei jedem Wellenschlag auslaufend.

Die zierliche Frau legte einen Arm um die junge Weggefährtin, die die Geste erwidernd ihren Kopf auf die Schulter der Älteren legte und mit ihr schweigend verharrte.

Nach langer Zeit zog diese mit einem Finger eine Linie in den Sand, die bis an den leicht schaumigen Saum der Brandung reichte. Das Mädchen schaute kurz fragend auf, beließ die stillen Fragezeichen jedoch in ihren Augen.

Beide beobachteten nun, wie das langsam anflutende Meer die Linie mit jedem neuen Anlauf Zentimeter für Zentimeter, nahezu geräuschlos und unerbittlich, in sich hineinfraß.

Flut“, sagte die zierliche Frau leise, und es schien, als würde ihr Körper leicht zittern.

Weißt du… Flut… so stelle ich mir den Willen Gottes vor, der uns, wenn unsere kleine Lebenslinie das Meer der Ewigkeit erreicht hat, genau so zu sich herüberholt. Mit majestätisch sanfter Kraft, ohne Wendemöglichkeit für uns. Und ohne ein Wort der Erklärung im hier und jetzt. Einfach so, weil er es so will. Was am Ende bleibt, ist dann vielleicht noch ein Sandkorn am Strand unter unendlich vielen. Wie ein zu einer Erinnerung verdichteter Lebenslauf. Nur ein Sandkorn für ein ganzes Leben. Der große Rest ist aufgegangen im Meer, für uns nicht mehr sichtbar, aber doch da. Verstehst du das?“ Das Mädchen nickte nachdenklich.

Die zierliche Frau blickte auf das Meer hinaus und Tränen liefen von den Wangen herab.

Der Wind frischte auf und erneut schob sich eine Wolke vor die Sonne.

Komm, es wird Zeit!“ Die zierliche Frau tupfte sich die letzten Tränenspuren mit einem Taschentuch aus dem Gesicht und schob es in die Hosentasche. Dass sie mit den Tränen zwei Sandkörner in das Tuch wischte, bemerkte sie nicht.

Die ansteigende Flut hatte die gezeichnete Linie nun längst weggespült.

Komm, die Erinnerungen leben mit uns weiter. Gerade hier. Nur hier.“

Die beiden stapften Hand in Hand durch den Sand zurück zu den Fahrrädern.

So viele Sandkörner hier am Strand“, sagte das Mädchen leise.

Ja“, antwortete die zierliche Frau. „So viele Sandkörner. Und unsere Fußspuren. --- Komm, wir fahren jetzt zur Weissen Düne, trinken einen richtig heißen Tee und schauen, was Ben macht.“

Das Mädchen lächelte. "Ich hab dich lieb, Mutti.“

Jetzt lächelte die zierliche Frau auch.


- A. H. - (für F.)




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