28
Dez
2006

Neues von Gott Teil 2

Die kleine Frau setzte sich ihm gegenüber auf die Couch und blickte ihn mit ratlos hängenden Schultern an.
„Was ist zu tun…“ sagte sie leise, ohne ein Fragezeichen anzuhängen. Mit einer schnellen Bewegung versuchte sie, den Sitz ihrer Perücke noch einmal zu überprüfen. Ihre kleinen Augen fixierten ihn. Wie eine Maus sitzt sie da, dachte er. Und ich bin die Katze.
„Wir sollten uns zunächst darüber unterhalten, wer zum Kreis ihrer gesetzlichen Erben gehört. Erst danach macht es Sinn, über eine abweichende Regelung durch ein Testament nachzudenken.“
Dass ihr Mann, ein älterer Freund seines Vaters, vor sechs Jahren vorverstorben war, wusste er. Der Rest der Familiengeschichte lag für ihn im Dunkeln.
„Ich hatte mir notiert, dass Sie 81 Jahre alt sind und gehe wohl davon aus, dass von Ihren Eltern niemand mehr lebt?“ - Sie bejahte, und nach einigen Minuten des Zuhörens wusste er, wann sie wo und woran gestorben waren. Er notierte sich die Daten.
„Hatten oder haben Sie Geschwister?“ - Die kleine Frau schien unruhig zu werden und setzte sich auf der Couch ein Stück weit nach links.
„Was ist zu tun…“ sagte sie erneut und setzte eine Plastikrose auf dem Tisch um. „Wissen Sie, wir waren mit sechs Geschwistern. Aber außer mir sind alle da geblieben.“
Er blickte sie fragend an. „Da geblieben?“ - „Sie kommen aus Ostpreußen, nicht? Leben Ihre Geschwister noch dort?“
Die kleine Frau rückte wieder ein Stück in die andere Richtung. Unter der Wolldecke zog sie ein Taschentuch hervor und betupfte ihre Augen.
„Nein, da - ich meine, sie sind im Krieg geblieben.“
Jetzt rückte er ein wenig nach vorn.
„Entschuldigung, das habe ich nicht gewusst. Alle…?“

Ja, es waren alle. Da geblieben.
Sie berichtete in sich zusammengesunken von ihren fünf Brüdern. Von den vier Soldaten und dem Jüngsten, der zuhause bleiben durfte. Davon, dass zwei bei Stalingrad gefallen seien, einer, der Älteste, von Partisanen getötet worden, einer verschollen sei.
Er saß ihr ratlos, schweigend gegenüber, die Hände das Gesicht stützend. Lediglich die Augen wagten noch, zu fragen.
„Und der Jüngste - den habe ich umgebracht.“
Das Schweigen hing nun wie gefrorene Gänsehaut im Raum.
„Ich hatte irgendwann Diphterie bekommen. Und ihn angesteckt, weil ich mich doch dauernd um ihn kümmern musste. Er ist in meinen Armen erstickt. Und ich hätte mir gewünscht, der liebe Gott hätte mich für ihn geholt. Meine Mutter hat mich dafür bis zu ihrem Tode gehasst. Den Letzten habe ich ihr genommen, den Kleinsten, sagte sie immer wieder.“
Mit einer Handbewegung schob sie das Schweigen wie einen unsichtbaren Vorhang an die Seite.
„Aber der Große, der hat es nicht anders verdient. Der hatte ja schließlich eine Nahkampfspange in Gold.“
Der Anwalt schaute sie erneut fragend an. „Nahkampfspange?“
„Ja", sagte sie. "Eine Nahkampfspange." Und ihre Stimme wurde leise, so, als wollte sie sich selbst nicht hören. -- „Wissen Sie denn nicht, wofür man die bekommt? Er musste das Weiße im Auge des Feindes sehen. Bis zur letzten Entscheidung. Und das an fünfzig Kampftagen. Fünfzig Tage weiße Augen...“


- A. H. -
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