25
Okt
2006

Reiher

I.

Seltsam still lag er da, die Beine ein wenig verdreht, blass. Es knisterte eigenartig und der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus. Die Kinder um ihn herum, gerade noch in Bewegung, verharrten still, so als habe jemand die Wirklichkeit in ein Stundenglas gestopft und dann verkorkt. Bis eine von den Frauen schrie: „Himmel, zieh doch einer den Stecker raus!“

II.

Einen Teich anzulegen war schon immer einer seiner kleinen Träume. Hinten im Garten, kurz vor den Tannen, grenzend an die Ziegelmauer zu den Dörners. Es war ja auch an sich nicht viel Arbeit. Gut, das Ausschachten machte Mühe und kostete ihn zwei Tage Anstrengung und noch einige Tage mehr an Rückenschmerzen. Gut, für den Transport der Fertigwanne aus Kunststoff musste er sich auch etwas einfallen lassen. Immerhin hatte sie das Format von drei Whirlpools und konnte nicht mal so eben im Kofferraum befördert werden.
Letztlich war das Schnee von gestern. Das Einpassen in den Krater im Garten und die Erstbepflanzung mit Wassergewächsen hatte er bereits erledigt, und die Umrandung mit feinem Kies zur Abgrenzung zu den Rasenflächen sah auch adrett aus. Es fehlten also nur noch zwei Kleinigkeiten: Fische und Wasser. Letztgenanntes natürlich zuerst.
Es dauerte einige Stunden, bis das Becken sich gefüllt hatte. Und natürlich war ihm klar, dass er nicht sofort seine Goldfische in das gechlorte Wasser setzen konnte. Aber was soll`s – auf die halbe Woche mehr oder weniger kam es jetzt wirklich nicht mehr an.
Als er die drei Folienbeutel mit den Fischen vorsichtig in den Teich setzte, die Klipse öffnete und die Beutelränder einen nach dem anderen auseinanderzog, um den Fischen den Weg zu zeigen, dachte er daran, wie seltsam manchmal doch die Freiheit definiert wird. Vom Becken des Händlers in die Beutel und nun in den Teich. Letztlich doch gefangen in kleinem Raum. Elternhaus, Schule, Arbeitsplatz. Und die Freiheit nur definiert durch das Maß der Einbildung, wie er einmal irgendwo las.
Die Fische akklimatisierten sich erstaunlich schnell, und es dauerte nicht lange, bis sie munter im Wasser von einem Ende des Teiches zum anderen zogen, um das neue Terrain zu erkunden. Die Richtung, so dachte er, ließ sich ohnehin durch das Einstreuen von Futter ändern. Und wenn die Fische Menschen wären, wäre es auch nicht anders.

III.

Der Reiher war schon am vierten Tag da.
Er sah ihn zufällig, als er es sich im Wohnzimmer vor dem großen Fenster gemütlich machte und einfach nur das satte Grün des Gartens auf sich wirken lassen wollte.
Er sah, wie dieser mit seinem langen Schnabel wie ein Partygast mit dem Picker nach der Cocktailkirsche angelte – und er sah, wie der Reiher nach kurzer Zeit einen seiner Goldfische zappelnd im Schnabel hielt und sich umsah. Das Klopfen an der Scheibe nutzte nichts mehr. Der Vogel machte sich mit schnellen Flügelschlägen auf und war in Bruchteilen von Sekunden aus dem Garten verschwunden. Mit dem Fisch. Und das war nicht der einzige, der fehlte. Beim Versuch, den Bestand zu kontrollieren, kam er auf ein Minus von vier Fischen. Ein Drittel. Verschwunden. Zum Snack geworden für einen Vogel, den der Teufel geschickt haben musste.

IV.

Genau dorthin würde er ihn auch zurück schicken. Es wäre doch gelacht, wenn diese fliegende Ratte die Oberhand behalten würde.
Er hatte im Keller noch eine Trommel liegen, auf der fein säuberlich aufgerollt etliche Meter blanken Kupferkabels gewickelt waren. Er hatte sie mitgenommen, als bei einem verstorbenen Nachbarn entrümpelt wurde und etliches an Mobiliar und Sperrmüll an die Straße gestellt worden war. Er freute sich, beim Mitnehmen der Kabeltrommel doch einen guten Riecher gehabt zu haben, denn jetzt würde er sie gut gebrauchen können.
Das gute Dutzend kurzer Rundhölzer, die er sich ebenfalls besorgt hatte, schlug er im Abstand von einem halben Meter rund um den Teich in den weichen Gartenboden und kerbte sie oben quer ein. Danach ging er dazu über, das Kupferkabel über diese Stäbe zu spannen. Kreuz und quer über den Teich, so, dass es fast wie ein glänzendes Spinnennetz aussah, das sich über das Wasser spannte. Ein Ende des Kabels verdrillte er an einem der Rundhölzer, das andere führte er vom Teich weg zu der Mauer, an der bereits ein Stromkabel bereit lag, dessen Ende er mit einem Messer blank legte und die schwarze Ader mit Isolierband an dem Kupferkabel befestigte. Die Verbundstelle deckte er vorsichtig mit einer halben Tonröhre ab. Fertig.
Das freie Ende des Stromkabels, noch mit einem Stecker versehen, führte er nun sorgsam an der Mauer lang bis zu seinem Kellerfenster, das halb geöffnet war und dem Kabel genug Raum bot, seinen Weg in den Keller fortzusetzen.
Er war kein Elektriker und wusste nicht, ob nicht sofort die Sicherung durchschmelzen würde, wenn er das Kabel in die Steckdose steckte. Aber seltsamerweise passierte nichts. Kein Knallen, kein Zischen, keine Funken. Eine Stille, als wenn sich nichts geändert hätte, lag über dem Garten, dem Teich, dem Netz.
Der Reiher konnte kommen. 220 Volt warteten geduldig.

V.

Wenige Tage zuvor hatte sein Sohn angerufen. Dessen Tochter stand kurz vor der Einschulung und wollte den ersten Schultag gern im Kreis der Familie feiern – wie es eben so üblich ist, wenn das erste Enkelkind vor einem besonderen Einschnitt im Leben steht.
Er wusste, dass der Sohn in der kleinen Mietwohnung keine Möglichkeit hatte, den Kreis der Verwandten unterzubringen. Da Sommer war und der Garten groß genug, bot es sich nahezu an, hier zu feiern. Es war ja auch schön, noch diese Wertschätzung als Vater und Großvater genießen zu können. Und da der Tag noch einiges an Zeit zur Verfügung ließ, holte er Tische und Stühle und den Sonnenschirm aus dem Keller. Dazu die kleinen Kinderfußballtore, denn er wusste, dass die beiden Älteren seines Sohnes gern den Freiraum im Garten nutzten, um Fußball zu spielen. Und morgen sollte ja auch noch die Sonne im Überfluss scheinen.

VI.

Der Reiher hatte sich weder am Nachmittag noch in der Nacht sehen lassen. Das Geflecht über dem Teich war noch jungfräulich unberührt, die Fische, soweit er es überblicken konnte, vollzählig vorhanden. Unter Abzug der bereits geräuberten Bestände versteht sich, die er aber alsbald durch Nachkäufe ersetzen wollte.
Gut, er konnte sich am heutigen Tag keine großen Gedanken darum machen. Die Falle war aufgebaut und konnte sich selbst überlassen werden. Ohnehin war er in Eile: In einer guten halben Stunde sollte die Einführungsveranstaltung an der Grundschule beginnen, der selben, in der er auch schon vor gut sechzig Jahren die Schulbank drückte. Das hatte schon etwas nostalgisches, nun die Enkeltochter mit all den anderen am ersten Tag zu begleiten.
Er schaffte es rechtzeitig, sich an der Schule einzufinden. Das Programm, das sich die Direktorin ausgedacht hatte, war ansehnlich. Einer der stellvertretenden Bürgermeister war da und hielt eine Rede, der sich die Schulleiterin ergänzend mit warmen Worten anschloss. Ein Kinderchor sang einige Lieder, eins davon mit englischem Text, den er nicht verstand. Danach noch einige Aufführungen von Schulsportgruppen, die eine Reihe von volkstümlichen Tänzen darboten. Danach verschwanden die Kinder in den für sie vorgesehenen Klassenräumen, während Eltern und Besucher die Möglichkeit hatten, sich bei Kaffee und Kuchen gegen einen kleinen Obolus zu stärken.
Nach einer halben Stunde war`s dann schon gelaufen: Die Kinder strömten fröhlich lärmend aus der Schule und stürzten aufgeregt auf ihre Eltern zu. Nachdem die üblichen Fragen und Antworten zum ersten Tag ausgetauscht waren, machten sie sich auf zum Garten. Er hatte dort bereits alles für ein zweites, ausgiebiges Frühstück vorbereitet. Die Schwiegertochter hatte ihm beim Einkauf und einigen Handreichungen geholfen, und es sah wirklich ordentlich aus, was sich da auf den Tischen wiederfand.
Die beiden Jungen, die an diesem Tag schulfrei hatten, hielt es nicht lange am Tisch, und schnell gingen sie dazu über, ihre Energie beim Fußball in den Rasen zu pflügen.
Natürlich wurde es irgendwann langweilig, mit zweien, Mann gegen Mann, Fußball zu spielen, und so bot sich der Vater, ohne dass großes Zureden erforderlich war, an, als Torwart zur Verfügung zu stehen. Ein Tor, auf das nun beide Jungen spielen durften, testend, ob der Vater noch in der Lage war, schnell zu reagieren.
Bei einer der Flanken, die der Ältere schoss, wollte er es den Jungens zeigen. Mit einem flotten Sprint lief er dem Ball entgegen, der sich ihm flach über dem Rasen näherte. Es würde sich sicherlich gut für einen Vater machen, den Jungens eine Grätsche vorzuführen. Er ließ sich im Lauf fallen, mit gestreckten Beinen dem Ball entgegen, über dem Hosenboden seiner Shorts den Rasen als Rutschfläche nutzend. Nur wenige Schritte entfernt vor sich sah er den Teich mit diesem seltsamen Gespinst aus Drähten, auf die er sich keinen Reim machen konnte. Ohnehin war die Abwehr des Schusses wichtiger. Er traf den Ball und beförderte ihn mit dem linken Fuß in die Tannenhecke. Die Drähte kamen rasend schnell näher und er wusste, dass er mit den Beinen im Teich landen würde.

VII.

Seltsam still lag er da, die Beine ein wenig verdreht, blass. Es knisterte eigenartig und der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus. Die Kinder um ihn herum, gerade noch in Bewegung, verharrten still, so als habe jemand die Wirklichkeit in ein Stundenglas gestopft und dann verkorkt. Bis eine von den Frauen schrie: „Himmel, zieh doch einer den Stecker raus!“

- A. H. -
664mal gelesen
Nachtbriefkasten - 25. Okt, 18:50

Also Leute!
Lieber den Reiher in den Fisch, als den Papa ins Gras beissen lassen.

P.S.: Hundsgemeine Geschichte. Ich mag hundsgemeine Geschichten. ;-)

Tanzlehrer - 26. Okt, 09:44

Erwähnte ich schon, dass auch von den Fischen keiner überlebte? Nein? Ach...
conductor - 16. Jun, 21:21

böse, aber schön

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conductor - 3. Aug, 14:18

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